von G. Wegener
Es kommt nur selten vor, daß Beruf und Sport derart wundersam Hand in Hand gehen, wie es im folgenden beschrieben sein wird. Auf der einen Seite steht Jean-Francois Lyotard, einer der prominentesten Vertreter der zeitgenössischen französischen Philosophie. Am 26. November 1984 schreibt er aus New York einen Brief an Alexander Demoule. Lyotard wäre kein anständiger Philosoph, hätte er diesem Brief nicht sogleich auch einen Titel mitgegeben und den Inhalt sorgsam philosophisch verklausuliert geschrieben. Hier also nun der betreffende Auszug aus dem "Memorandum über die Legitimität" des Jean-Francois Lyotard, der mir rein zufällig in die Hände fiel:
"Nehmen wir die Präskription: x ist verpflichtet, die Handlung a auszuführen. Der normative Satz hieße dann: y hat die Norm gesetzt, daß x verpflichtet ist, die Handlung a auszuführen. Wenn er auf diese Weise formuliert wird, bezeichnet der präskriptive Satz, hier mit dem Namen y, die Instanz, welche die an x gerichtete Präskription legitimiert [...] Der circulus vitiosus: y hat Autorität über x, weil y dazu autorisiert; die petitio principii: Die Autorisierung autorisiert die Autorität, das heißt der normative Satz autorisiert y, Normen zu setzen..."
Schön, daß ihr nicht gleich aufgehört habt zu lesen! Es wäre angesichts dieser Zeilen wohl kaum zu verdenken gewesen. Doch kommen wir nun zur zweiten Seite der eingangs erwähnten Symbiose; unseren geliebten Sport, den Triathlon, hier in seiner Sonderform, dem Langstreckenlauf. Als Fallbeispiel sei ein wohl allen geläufiger Wettkampf genannt: die 25km de Berlin.
Wer setzt nun welche Norm und autorisiert wen und was heißt dabei überhaupt "Präskription"? x sei demnach gesetzt als der einfache Triathlet. Ein ganz gewöhnlicher Sportler, wie Du und ich. Er hat sich nun vorgenommen eine Handlung auszuführen, d.h. er möchte an einem Wettkampf teilnehmen. Zu diesem Zwecke meldet er sich beim Veranstalter an.
Mit diesem einfachen Vorgang sind wir schon mittendrin in der Philosophie. Dadurch, daß sich also unser Athlet x beim Veranstalter, also der Instanz y, gemeldet hat. Somit hat x folglich y autorisiert, ihn zur Handlung a erst einmal zuzulassen. So ging es am Sonntag, dem 7. Mai 2006 gleich mehreren tausend Läufer, unter ihnen der ein oder andere Triathlet auch unseres Vereins. Alle, lauter einzelne x, hatten sich, bei y, gemeldet, um nun endlich die Handlung a auszuführen, also 25km durch Berlin zu laufen und am Ende mit dem einmaligen Einlauf in das Olympiastadion belohnt zu werden. In bezug auf die zitierte Textstelle hieße dies, daß wir alle, die wir dort auf dem Olympischen Platz dem Start harrten, uns der durch den Veranstalter gesetzten Norm, nämlich 25km zu laufen, unterworfen hatten. Was hier noch so verharmlost in der Theorie anklingt sollte sich dann als wahrer "circulus vitiosus" - der gemeine Triathlet bevorzugt den Begriff des Teufelskreises - erweisen.
Nach anfänglichem Geschwindigkeitsrausch auf stetig abfallender Strecke ist das Anfangstempo naturgemäß bei den meisten zu schnell gewählt, was sich zum Ende hin bitter bemerkbar macht. Ab Kilometer 15, in etwa Höhe Gedächtniskirche, beginnt die Strecke langsam zu steigen. Erst unmerkbar, doch spätestens am Anstieg zur Masurenallee und der dortigen Querung der S-Bahn äußerst spürbar. Hier sind es dann immer noch 5km bis ins Ziel. 5km entlang der Heerstraße, weit entfernt von Menschen, die eine Ahnung von Publikum würden geben können.
So quälte auch ich mich an besagtem Sonntag vollends erschöpft die nicht enden wollende Heerstraße entlang und mußte beständig an Herrn Lyotard denken, der mir noch nie so einleuchtend erschien. Da habe ich nun den Veranstalter autorisiert, mir die Hürde von 25 harten Kilometern auf dem Asphalt Berlins aufzuerlegen und dieser gibt mir seine Autorität über mich nun mit aller Härte zu spüren. Mit jedem Schritt wurde mir deutlicher, wie anstrengend Laufen sein kann. Doch eigentlich ist jene Qual vollkommen widersinnig, denn gar freiwillig auferlegt. Auch wenn ich einst mit meiner Unterschrift unter der Anmeldung jemanden autorisiert haben sollte, mich über diese Strecke zu scheuchen, so tue ich es letzten Endes doch freiwillig. Oder? Gibt es nicht vielleicht doch eine höhere Autorität, die uns dazu zwingt?
Ich bin geneigt diese den inneren Schweinehund zu nennen, der letztlich sämtliche Autorität über uns ausübt. Er zwingt uns ahnungslose Triathleten, uns auf das Abenteuer des Wettkampfes einzulassen und hilft uns dann am Tag der Entscheidung nicht etwa, sondern quält uns ganz im Gegenteil auf das Entsetzlichste.
Doch am Ende sind wieder alle glücklich. Der Zieleinlauf auf der blauen Tartanbahn bei schönstem Sonnenschein, dazu das eigene Bild in voller Größe auf der Video-Leinwand und das alles überragende Gefühl, es am Ende doch wieder geschafft zu haben, entlohnen für all die Qual. Und ganz im Sinne Lyotards gedenken wir sogleich wieder, uns dem Teufelskreis der Autoritäten auszusetzen und vielleicht doch für den nächsten Wettkampf zu melden...