Swiss Alpine Marathon K 78 (Davos), 25.07.2009

von Thomas Thiemer

 Strecke: Swiss Alpine Marathon K78

17:06 Uhr, Davos, Sportplatz. Ich nehme die letzten Meter nach 9:14 Stunden Laufen in Angriff. 78,5 Kilometer liegen nun hinter mir, 2260 Höhenmeter wurden dabei überwunden. Doch die Beine fühlen sich locker und leicht an, ich erhöhe auf der Tartanbahn den Schritt, das Tempo, grinse in mich hinein und … bin im Ziel. Glücklich, fassungslos ob des Vollbrachten. 9:14 Stunden durchgehendes Runner´s High, permanente Freude, ein Lauf ohne Tiefs, ohne Einbruch. Perfekt. 357. Platz (v.882 gefinishten Männern; Frauen im Ziel: 140; Gestartet: ca. 1100; Siegerzeit Männer: 5:48h !, Frauen: 6:41h! Haben die abgekürzt?), 47. AK.

Winter, Berlin. Der Gedanke den Swiss Alpine, den größten Ultra-Berglauf der Welt zu bestreiten, hatte ich schon lange auf meiner Agenda. Das Laufen mit meiner Passion, den Bergen bzw. Hochtouren zu verbinden, lag zu nahe. Gunnar´s Erzählungen tun ihr Übriges, wobei meine Zweifel am Machbaren stets überwiegen. Zu eindrücklich sind noch die Erinnerungen an die letzten Kilometer in manchem Marathon, wo die Schmerzen einen fast scheitern ließen, wo kurze Strecken zu Ewigkeiten wurden. Und dann 36 Kilometer länger, zudem noch berghoch bergrunter, über Stock und Stein? Bei einer erwarteten Zeit zwischen zehn und elf Stunden also eine Dauer rein laufend unterwegs sein, die man bei einem Ironman überwiegend per Rad und Schwimmen absolviert? Unmöglich, so scheint es mir… Ultralange Trainingsläufe sollen mir ein Gefühl der Sicherheit und eine Vorstellung vom Machbaren geben. So laufe ich einige Male mit Trinkrucksack von der Arbeit (Moabit) über Gatow, Kladow, Sacrow, Potsdam und Wannsee nach Hause, je nach Strecke zwischen 52 und 58 km, fünf bis sechs Stunden, flach. Sicher, diese Prozeduren sind in mentaler Hinsicht einerseits hervorragend, andererseits scheint es mir, irgendwo abends platt schon in Potsdam stehend, absurd ungefähr die doppelte Zeit in alpinen, teilweise hochalpinen Gelände laufen zu können. Gleichwohl ward eines schönen Tages die Anmeldung abgeschickt…

Ein passabler Hamburg-Marathon im Frühjahr (3:04h) und ein guter Irontown sowie weitere lange Läufe glätten zumindest einige der Sorgenfalten, die sich beim Gedanken an den 25.07.09 abzeichnen.

8:00 Uhr, Davos, Sportplatz. Nachdem am Vorabend ein heftiger Regenfall und Gewitter das unmittelbar vor meinem Hotel stattfindende Straßenfest mit Live-Musik förmlich weggespült hat und ich doch noch einschlafen konnte, aber gepflegt verschlafen habe, stehe ich nun doch rechtzeitig im hinteren Starterfeld. Der Heli kreist, ich blicke mich um und fühle mich fehl am Platz. Extrem sehnig und austrainiert wirkende, im Gesicht gegerbte Männer und Frauen mit maximal 60 kg Körpergewicht und Shirts mit Aufdrucken wie "Ultra Trail du Mont Blanc", "100 Marathon Club", "100km de Bienne(Biel)", teilweise mit Rucksäcken, Gamaschen, warten völlig entspannt, Schwätzchen haltend und französische Volkslieder singend auf den Start. Freue mich über Jeden der Wenigen, der meiner Gewichts- und Ultra-Erfahrungsklasse zugehörig scheint und denke bange an die gesundheitlichen Probleme der letzten Wochen zurück. Kaum noch Lauftraining wegen einer äußerst schmerzhaften Achillesfersenreizung, lange Magenprobleme und zuletzt noch eine Erkältung. Die Frage stellte sich, ob die Anreise überhaupt Sinn macht. Ich entschied es zu probieren, notfalls bei Filisur auszusteigen und mich beim K31 werten zu lassen, vor allem wenn die Ferse wie zuletzt ein normales Auftreten kaum noch möglich macht. Erst gestern, als ich nach meiner morgendlichen Ankunft der Akklimatisation halber mit der Seilbahn auf ca. 2500 Mt. fuhr und dort u.a etwas joggte, war sie gleich wieder gereizt. Ich hoffte auf ein Wunder…

Startschuss, es geht los. Das Feld setzt sich gemächlich in Bewegung und dreht eine Runde durch Davos, das moderne, durch seine Weltwirtschaftsforen bekannte größere Bergdorf ohne allzu viel Charme. Das erste Gefühl ist gut, die Ferse meldet sich, schmerzt aber nicht. Meine Zweifel, meine Unsicherheit verfliegen mit den letzten Wolken und gleichsam der Sonne dringt nun ohne rationalen Grund aus heiterem Himmel die absolute Sicherheit durch, dass ich das heute schaffe. Egal in welcher Zeit (eine Uhr habe ich bewusst nicht mit), aber ich packe das. 78km ? Im Training waren es doch schon fast 60! Berge? Schön ruhig hoch, dann geht das.

Die Strecke führt nun das Tal hinaus, wobei schnell die ersten Anstiege auf Forst- und Waldwegen kamen, mitunter schon schmale Wandersteige. Wurzeln, Brücken, Treppen und kurze Tunnel fanden sich auch im Profil. Selbiges in der Ausschreibung spiegelt kaum die Stiche auf den ersten 31 km wieder, die hier schon den Willi´s, Teufelsbergen entsprechen. Die Stimmung ist super, die Franzosen singen ab und an ihre Liedchen und kommentieren jedes "Pipi", man kommt oft ins Gespräch an den zu marschierenden Anstiegen, und auch ein Regen zwischen km 20 bis 25 scheint niemand wahrzunehmen geschweige denn zu stören. Offenbar lässt die Fokussierung auf die Großaufgabe alle kleinen Unbillen nichtig erscheinen, das gilt übrigens auch für kleinere Orga-Mängel oder eine hölzerne Anreise mit nächtlichen Aufenthalten auf rheinischen Bahnhöfen und schlafungeeigneten IC- und SBB-Sesseln…

Die Verpflegung ist überschaubar, aber ausreichend. Bananen, Iso, Tee, teilweise Bouillon (ungewohnt, aber gut) und teilw. Müsliriegel, später auch ab und an Gels. Die Helfer sind sehr motiviert und schwyz-ungewöhnlich freundlich. Der Lauf über das Viadukt, eines der Wahrzeichen der Region Graubünden, ist nett aber wenig spektakulär aus dieser Perspektive.

Km 31 und damit das Ziel des K31 (es gibt auch noch die Läufe C42 und K42) ist in Filisur erreicht (3:06h). Über ein Finish an dieser Stelle denke ich gar nicht mehr nach (nur 47 geben hier auf). Die Ferse spüre ich schon gar nicht mehr und die Beine fühlen sich locker an, als wäre ich gerade mal eine Runde um die Krumme Lanke gejoggt. Also weiter. Es folgt ein sehr langer Anstieg, wo schon Viele gehen. Ich kann noch ganz easy laufen und mache mir keine Sorgen um eine Kraftverschwendung. Der Weg führt auf eine Passstraße, die ein paar km nach Bergün hochführt. Serpentinen schlängeln sich an Felswänden , Radfahrer kneten hier die zweistelligen Prozente neben uns hoch. Hier gehen fast alle, und auch ich tue dies lieber und komme mit einem älteren Berliner ins Gespräch, der mir u.a. von der geführten Streckenbesichtigung vom Wochenanfang und Schauerliches über den ultimativen Anstieg zur Keschhütte sowie den sog. Panoramatrail zu berichten weiß. Dank Gunnars Casting fühle ich mich aber auch hier mental gut vorbereitet und freue mich auf´s Hochalpine.

In Bergün rennen flinke Jungs voraus und holen meinen Beutel an der Station. Ich entscheide mich nach einem Moment des Abwägens unsere Sisu-Weste anzuziehen sowie Ärmlinge und eine Mütze mitzunehmen, denn auf 2632 Meter üNN. -der Keschhütte ff.- kann es zugig werden. Dafür wird mir unter der Sonne im hier beginnenden Aufstieg, der sich überwiegend auf Forstwegen laufen lässt, umso heißer. So erreicht man im oberen Talschuss Chants, ein Bergdorf wie aus einem Heidi-Film. Hier beginnt der 5,7 km lange heftige Aufstieg zur Keschhütte. Zunächst im dichten Nadelwald, geht es über einen schmalen und sehr steilen Hüttenzustieg aus der Baumgrenze hinaus und später über loses Geröll und Steine, kleine Bäche und Spitzkehren zur Hütte, die man schon eine Weile vorher sieht und welche DEN Kulminationspunkt des Laufes markiert. Zwar schmerzt der Rücken vom gebückten Steigen, aber die Gewissheit 52,9 km und den heftigsten Anstieg von insgesamt 22 km geschafft zu haben lässt einen frohen Mutes auf den weiteren Weg hoffen. Abbrechen oder Absteigen ist hier ohnehin nicht mehr; Wer "platt" oder verletzt ist kann nur umdrehen, durchziehen oder sich ausfliegen lassen…doch niemand dergleichen ist zu sehen! Ich frage eine Wanderin wie spät es ist und sie sagt "14:06 Uhr". Ich rechne und kann es kaum glauben. Wenn ich nicht mehr einbreche kann ich evtl. unter 10 Stunden bleiben. Es sind ja "nur noch ca. 25 km", überwiegend abfallend.

Also sitze ich nur kurz auf einem Stein, schlürfe die Bouillon und jage los. Auf dem einige hundert Meter langen steilen und steinigen Abstieg von dem Kamm, auf dem die Hütte liegt, sind alle vor mir sehr langsam und vorsichtig unterwegs und ich springe und sprinte neben dem Weg über großes und kleines Blockwerk vorbei, zum Glück ohne Sturz und Umknicken. Der Himmel ist hier bedeckt, es ist kühl.

So gelangt man auf den sog. Panoramatrail. Ca. 7 km lang, ein ewiges hoch und runter, 2-Füße-breit, daneben rechts der Abhang, ein Stein- und Sandpfad, der über kleine Wasserfälle (pitschnasse Füße und Schuhe, aber völlig egal- s.o.) und zwei kleine Schneefelder zum Scalettapass (2606 m) führt. Laufen konnte man evtl. 60 % der Strecke, wenn einen Andere auch mal durchgelassen haben, aber hochkonzentriert. Am Pass schaut ein Arzt einem tief in die Augen, ob man noch "anwesend" oder schon im Ultra-Nirvana ist. Meine Begleiter vom Trail blieben dort und verpflegten sich in Ruhe- schade, ich wollte schnell weiter. Übrigens gab es auf dem Trail wie auf dem Pass sogar Verpflegungsstände, die wohl mit dem Heli hochgeflogen wurden. Fantastisch!

Den Trail hinunter nach Dürrboden rannte ich im Affenzahn und es ging auch gut. Einige stolperten schon gefährlich und auch Sturzverletzungen sah man später. Die Quittung dieses Downhill-Rennens waren erstmal harte Oberschenkel. Aber auch hier blieb mir das Wunder hold, nach kurzer Verpflegung sah ich den letzten 14 km hinunter nach Davos gelassen entgegen. Die kurzen Gegenanstiege konnte man nun laufen oder auch getrost marschieren. Erst bei Duchlisage gab es nochmals zwei ernstere Anstiege, vergleichbar mit dem "Kilometerberg" im Grunewald, was mit 75 km in den Beinen auch keinen Jubel mehr auslöst.

Doch dann ging es nur noch runter nach Davos rein, dem Stadion zu…

Davos, Berlin, die Tage danach... Was nach allem zuvorderst bleibt ist die Faszination über das individuelle Unmöglich-Mögliche. Der Swiss Alpine zeigt einem zwar in wunderschönster Alpenlandschaft inmitten vieler wunderbar gelassener Ultras auf, was man schaffen kann und dass derartige Bewerbe weniger im Training, sondern im Wesentlichen im Kopf geschafft werden können. Er lässt mich aber auch mit der Frage zurück, wie es physisch möglich ist, 78,5 km Berglauf ohne jegliches Tief zu schaffen, wenn man schon im Training nach langen flachen Läufen auch nur einen weiteren einzigen Kilometer für nicht machbar hält…ein unvergesslicher Tag, an dem das erhoffte Wunder eingetreten ist…Und das scheint Vielen so zu gehen. Ich habe nicht Einen (!) gesehen, der irgendwann scheinbar nicht mehr konnte, völlig fertig Gehpausen machen musste oder gar am Rand saß. Alle scheinen zu wissen, was sie tun...

Doch mehr als Worte sagen Bilder, weshalb der Link von der offiziellen swissalpine.ch - Seite (dort auch Fotos) auf die Dia-Show/Galerie bei www.swiss-image.ch empfohlen sei. Tolle Fotos, die einen guten Einblick in den Lauf geben, den ich als ein mögliches Highlight eines "Läuferlebens" nur empfehlen kann.


© TriGe Sisu Berlin; 31.7.2009