von Sarah Arnold
Der traditionsreiche Boston Marathon ist eine perfekt organisierte Veranstaltung. Schließlich haben die Bostonians schon seit 1897 Erfahrung gesammelt. Das strenge Anmeldeverfahren ist einzigartig unter den Majors, denn hier kommt keiner durch eine Lotterie oder einen Reiseveranstalter rein, sondern durch die Qualifikation. Nach der Zusage der Boston Athletic Association erhielt ich eine Flut von Emails und Post, und ich könnte so meine Reise und den Lauf gut vorbereiten. In Boston war ich früh am Samstag auf der Expo, wo ich nur ca. 20 Minuten für meine Startnummer anstand. Die Sicherheitsmaßnahmen waren auf der Expo und überhaupt vom Anfang bis Ende sehr präsent – wie meine Mutter in Bezug auf den traurigen Ereignissen von 2013 meinte: "They will never let that happen again".
Am Sonntag waren wir beim "Pre-Race-Dinner' im City Hall. Dort standen wir zwar eine halbe Stunde an, aber drin war es komfortabel mit einer tollen Stimmung. Das Essen war überraschend vielfältig und gut, mit sowohl glutenfreien wie auch veganen Angebote. Es war für Läufer inklusiv und jeweils $30 für meine Gäste.
Ich hatte das Glück, dass meine Schwester mich bequem nach Hopkinton fahren konnte. So vermied ich die frühen Shuttles aus Boston und stieg stattdessen in einen Bus in der South Street zum Athletes Village ein. Zu der Zeit stürmte es noch heftig, alle hatten Regenponchos an und Plastikbeuteln um die Füße. Von der Haltestelle war es noch ca. 1.000 m zum Athletes Village, ein Schulgelände mit einem großen Zaun herum. Mehr als 30.000 Läufer standen dort eng im Wasser und Schlamm, oder saßen auf Plastikplanen in großen, weißen Zelten. Neben einem Zelt waren einige Tische mit Verpflegung aufgestellt: Wasser, Gatorade, Bananen und Bagels. Bildschirme gab es keine, aber manchmal hörte ich etwas am Lautsprecher. Der Start um 10 Uhr kriegte ich nicht mit, nur die begleitenden Kampfjets, die drüber flogen.
Hinter den Zelten war eine endlose Reihe von PortaPotties. Es hat aber leider eine halbe Stunde gedauert bis ich dran war, und dann wurde mein Wave aufgerufen. Auf dem Weg zum ca. 1.000 m entfernten Start zog ich nach und nach diverse Klamotten aus, denn es wurde immer wärmer. Die Blocks waren viel kleiner als Berlin, und es gab weder Musik noch Ansprache. Aber alle waren sehr freundlich und die Stimmung war super.
Meine Welle wurde pünktlich um 10:50 gestartet. Die Straßenränder waren voll mit fröhlichen Zuschauern, und die ersten der vielen Verpflegungsstellen tauchten schon nach 500 m auf. Es war eng, als wir anfangs auf einer kleinen Landstraße abwechselnd durch Waldgebiete und niedliche Dörfer liefen. Die Strecke ging zunächst wie erwartet bergab. Was ich aber nicht erwartete: dass es auch häufig bergauf ging. Ich hatte gehört, dass die ersten 10 k bequem bergab gehen würden und danach es angeblich 10 k lang flach sei. Das war nicht so. Es kamen immer wieder richtige Anstiege, man denke etwa an den Postfenn im Grünewald, nur kürzer. Die ersten 10 k fand ich OK, aber ich wurde immer mehr verunsichert als ich feststellte, dass selbst die angeblich "flache" Strecke überhaupt nicht flach war.
Und so kam ich nach HM in ernsthaften Schwierigkeiten. Die Anstiege wurden immer anspruchsvoller und die riesige Menge von begeisterten Zuschauern immer lauter. Ich kam mich wie im falschen Film vor. Natürlich hatte ich mit einer Wadenverletzung im letzten Trainingsmonat zu tun gehabt, aber die erklärt nicht alleine meine Probleme. Ich war einfach für das Gelände nicht genug vorbereitet. Die Wade hielt. Aber mein rechter Oberschenkel wurde schon im Wellesley total fest. Die Studentinnen in Bikinis haben ihre Seele aus dem Leib gebrüllt, aber ich war ganz in mich gekehrt. Denn ich wusste, dass Newton noch bevorstand.
Der erste richtige Anstieg (um 26 k) ist mit unserem "Willi" am Wannsee vergleichbar. Inzwischen war es 25 Grad warm, und ich war in der prallen Mittagssonne. Keine Kappe, keine Sonnenbrille, nicht mal Sonnenkreme, denn es sollte bewölkt mit Regen sein. Meine Schwester wartete auf mich am dritten Anstieg vom Newton, am berühmten Heartbreak Hill. Also machte ich langsam weiter und ignorierte meine Uhr, die mich nur noch deprimierte. Es war schon längst klar, dass ich niemals an diesem Tag einen PR laufen könnte.
Heartbreak Hill (um 31 k) ist etwa 1 k lang und hat ca. 3-4 % Steigung. Mitten drin wird es kurz flach und dort sah ich meine Schwester. Sie meinte nur: "keep it going!". Schließlich hatte ich wegen diesem einen Hügel den ganzen Winter lang Hill-Repeats gemacht. Die Realität aber war ernüchternd. Nach 30k rollenden Hügeln war der Anstieg viel schlimmer, als ich ihn mir jemals vorstellte. Überall gingen Leute, oder saßen, oder lagen – ich machte aber weiter.
Danach ging es steil bergab, was für meine Oberschenkeln sogar noch schmerzvoller als bergauf war. An die letzten 10k erinnere ich mich kaum mehr. Als ich schließlich an Boylston links einbog und endlich das Tor sah, kam ein heftiger Sturm mit Wind und Regen auf. Kurz dachte ich an 2013 und was dort passierte, und wie das für die Läufer gewesen sein müsste, die so wie ich dort entlang liefen – und dann war ich darüber und es war vorbei.
Es gibt kein Finish-Festival beim Boston. Keine Zelte, keine Dusche, keine Wiese – nur Downtown. Es gab Wasser, Medaillen, Cliff-Riegel und irgendwo ein Bag-Pickup. Das konnte ich nicht nutzen, denn ich durfte kein Bag im Hopkinton abgeben. Beim strömenden Regen suchte ich meine Mutter im "Family Meetup Area", bekleidet nur in meinen Laufsachen und einer Plastikdecke. Irgendwann kam sie und ich ging in einen Frauen-Fitnessclub, wo Frauen kostenlos duschen könnten. Mit einem Zug aus der Stadt brachte ich meinen Boston-Lauf hinter mir.
Der Boston Marathon ist zweifellos eins der größten Lauferlebnisse, das jede ambitionierte Läuferin oder Läufer wahrscheinlich irgendwann angehen will. Für Berliner ist er aber besonders schwer, weil wir uns auf das Gelände schwer vorbereiten können. Stärkere Läufer werden ihn bestimmt besser meistern, aber ich persönlich fand diesen Marathon richtig hart. Dass ich schließlich mit 3:58:57 reinkam war für mich OK. Aber letztendlich reicht diese Zeit nicht mal aus, um mich für Boston in 2020 erneut zu qualifizieren. Auch OK, denn "once is enough".