von Dirk Bettge
Mittsommer ist vorbei, das halbe Jahr auch fast schon, und die Hälfte davon haben wir uns statt mit Wettkämpfen mit Dingen beschäftigt, von denen wir nie etwas wissen wollten. Ab sofort werden die Tage wieder kürzer – Zeit für eine Zwischenbilanz und einen vorsichtigen Ausblick.
Um zunächst die Stimmung ein wenig zu heben sind hier wieder ein paar Bilder vom Brandenburger Mittsommerabend kurz vor Sonnenuntergang. Tolle Stimmung, bestes Rennradwetter, endlose Alleen, das Korn wird reif – was will man mehr? Naja, ihr wisst schon, was jetzt kommt, und das wird etwas länger, sorry, ich weiß.
Die Sache mit den Exponentialfunktionen kann man vielleicht an einem Beispiel verdeutlichen, mit dem ihr euch alle herumschlagt: Luftwiderstand – des Triathleten größter Feind. Der kleinere Feind ist der Rollwiderstand: Der ist bezogen auf die Fahrstrecke konstant, daher vergrößert sich die dafür aufzuwendende Leistung linear mit der Geschwindigkeit. Doppelte Leistung führt zu doppelter Geschwindigkeit. Das gilt so leider nur für geringe Geschwindigkeiten bis ca. 15 km/h. Auf der Zeitfahrmaschine braucht ihr dafür lächerliche 25 Watt. Kann man also mit 100 Watt 60 km/h fahren? Weit gefehlt: die 100 Watt reichen für 27 km/h, und für 60 km/h sind über 800 Watt nötig, in Oberlenker-Position sogar 1400 Watt. Schuld daran ist die Exponentialfunktion: Der Luftwiderstand ist nicht konstant, sondern wächst im Quadrat mit der Geschwindigkeit, die aufzubringende Leistung daher sogar im Kubik mit der Geschwindigkeit – doppelte Geschwindigkeit erfordert die 8-fache Leistung, der Rollwiderstand spielt da ziemlich schnell keine Rolle mehr.
Nehmen wir mal an, ihr fahrt gaaanz langsam und braucht für 1 km/h 1 Watt Leistung (was ganz gut hinhaut). Ihr beschleunigt ganz leicht und fahrt mit 2 Watt schon 2 km/h. Was kümmert euch da der Luftwiderstand? 4 Watt reichen für 4 km/h. Luftwiderstand, der exponentiell wächst? Gibt's doch gar nicht, das hat sich die böse Radindustrie ausgedacht, um euch zu gängeln und euch teure Aero-Räder zu verkaufen. 8 Watt reichen immer noch für 8 km/h – wer sagt's denn – Luftwiderstand gibt's nicht, das ist eine Verschwörung. Für 12 km/h sind 16 Watt nötig. Naja, bestimmt war gerade der Asphalt etwas rauer. Leider passiert ab hier das, was im vorigen Absatz beschrieben wurde: Die zur weiteren Beschleunigung notwendige Leistung steigt über alle Grenzen und lässt euch in die Radläden rennen, um weiteres teures Aero-Equipment zu kaufen. Ab einem gewissen Punkt helfen weder Geld noch Training, ihr werdet nur noch minimal schneller. Ist das vielleicht doch Physik? Ich denke, ich sage nicht zuviel, wenn ich den Luftwiderstand als Realität bezeichne.
Gibt es vielleicht Parallelen zu neuen, aber hoch ansteckenden Virus-Infektionen? Am Anfang reist unbemerkt einer ein, der es hat. Bevor er was merkt, hat er weitere Menschen angesteckt. Sagen wir, es sind vier (das ist wenig, rechnet sich aber einfach) und rechnen wir eine Woche für jede weitere Weitergabe (mittlere Inkubationszeit). Wie lange dauert es in einer Großstadt von einer Million, bis etwas auffällt? Jetzt kommt wieder die Sache mit der Exponentialfunktion: Nach 2 Wochen sind es 16 kranke (die meisten vorigen sind wieder gesund, einer ist leider gestorben, das passiert), das ist immer noch nichts. Nach 4 Wochen haben wir gut 250 Kranke – langsam wird man hellhörig. Ab hier geht es schnell: nach 6 Wochen sind schon 4000 krank (die Krankenhäuser werden langsam voll), nach 8 Wochen 64.000 (auch die Leichenhallen füllen sich langsam). In Wirklichkeit geht es anfangs schneller, weil es noch keiner mitbekommt und niemand etwas dagegen tut. An dem Punkt, wo man hellhörig wurde (4 Wochen), fangen die ersten Menschen an, unnötige Dinge zu unterlassen, also Reisen, Fortbildungen etc., die Stadt untersagt Großveranstaltungen, schließt erste Einrichtungen. Nach 6 Wochen kommt dann der Lockdown, und oh Wunder: Ab dem Folgetag wird die Kurve flacher – war der Lockdown also unnötig?
Was ich sagen will ist, dass wir mit unserer Erkenntnis immer hinterher hinken. Über eine erstaunlich lange Zeit breitet sich etwas aus (oder wächst der Luftwiderstand), ohne dass es bemerkt wird, aber dann gehen alle Steigerungen rasend schnell. Wenn der Staat die große Keule rausholt (Lockdown, alles schließen), sind die Bürger schon wochenlang vorsichtiger, seit 2 Wochen die Schulen dicht und alle größeren Veranstaltungen abgesagt (so war es z.B. in Berlin). Der Lockdown ist nur der Schlusspunkt einer langen Reihe von Absagen und Schließungen. Leider funktioniert ab hier der Vergleich mit dem Radfahren nicht mehr, noch flacher können wir uns nicht über das Oberrohr legen, um den Luftwiderstand zu senken.
Der Lockdown ist die ultima ratio, die Reißleine, wenn man noch fast nichts weiß und ein ganz mieses Gefühl hat, Nothalt, voller Stopp. Wir hatten das zweifelhafte Glück (falls man das respektlos so nennen darf) zu sehen, was in Italien und Frankreich mit ca. 2 Wochen Vorlauf passiert ist. Die Landesregierungen und die Bundesregierung haben in der Not eine Art Krisenkabinett gebildet, das binnen weniger Tage Dinge verabredet hat, die sonst Jahre dauern. Dies hat alles ohne Diktatur funktioniert, Bundestag, Bundesrat und Länderparlamente mussten die informellen Beschlüsse einzeln umsetzen. Die Ausbreitung wurde gebremst – doch hat es vielleicht zu gut funktioniert? War das Ergebnis tatsächlich das gewünschte Ziel? Sind die angerichteten Schäden vielleicht im Nachhinein betrachtet zu groß? Wurden die Bürgerrechte vielleicht unangemessen begrenzt? Das wird zu diskutieren sein, was auch bereits geschieht. Ist jetzt schon die Zeit danach? Nein, leider nicht.
Im Nachhinein staune ich immer noch, dass etwas so simples wie Abstandhalten und Stoffmasken eine so große Wirkung haben. Was haben wir damit erreicht? Die Ausbreitung des Virus wurde fast komplett gestoppt, und nach einer gewissen Zeit sind die meisten Angesteckten wieder auf den Beinen, allerdings nicht alle. Nicht nur alte Menschen, sondern auch etliche Jüngere sind elend umgekommen. Aber das Virus ist nicht komplett weg, und die Durchseuchung ist immer noch sehr gering, weit weg von Herdenimmunität. Größere Unaufmerksamkeiten führen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu neuen Ausbrüchen. Meistens nicht, aber manchmal eben doch. Im Freien ist es weniger schlimm als in der U-Bahn, und in der U-Bahn ist es weniger schlimm als in der Fleischfabrik.
Wie eingangs erwähnt, war gerade Mittsommer. Die Tage wurden bis hierher immer länger, das Wetter schöner. Man konnte es aushalten als Triathlet. Wir durften Freiluftsport weiter betreiben, wenn auch ohne Wettkämpfe. Aber ab jetzt werden die Tage wieder kürzer, und irgendwann wird Herbst sein und Winter, und die Tage sind dunkel und grau. Was macht das mit uns, welche Perspektive haben wir? Kann man einfach davon ausgehen, dass 2021 alles wieder sein wird wie 2019? Ich fürchte, das ist nicht der Fall.
Wenn man sich die RKI-Zahlen für Berlin ansieht (hier klicken und dann in der Spalte links Berlin auswählen), dann ist besonders Berlin gerade in einem neuen Anstieg der Meldezahlen. Der Verlauf ist noch unklar, der Anstieg ist offenbar nicht so steil wie beim ersten Mal, aber hoch werden könnte die Kurve trotzdem – auch Exponentialfunktionen mit einem niedrigen Exponenten wachsen irgendwann über alle Grenzen, nur eben später als bei einem hohen Exponenten. Ein zweiter Lockdown könnte kommen, aber vielleicht passiert es auch nicht, denn viele Regeln gelten, die wir noch konsequenter einhalten könnten. Was noch: Saisonalität? Leider nicht zu erkennen. Haben wir nächstes Jahr einen Impfstoff, und alles wird gut? Auch das ist leider ungewiss. Könnte sein, aber vor Ende 2021 gibt's den nicht in Massen. Vielleicht erst später, vielleicht jedes Jahr anders wie bei der Grippe, vielleicht nie. Im letzteren Fall haben wir ein echtes Problem, müssen uns eingestehen, dass wir in eine Sackgasse geraten sind. Dann müssen wir vielleicht einen anderen Weg gehen: die Epidemie kontrolliert laufen lassen, bis wir alle durch sind. Dann wird Corona vielleicht die nächste Kinderkrankheit, und wir leben damit wie früher mit den Masern.
Was mir Sorge macht, sind wirklich die kürzer werdenden Tage und die Stimmung die sich vielleicht einstellt, wenn der Winter grau ist, aber die Pandemie anhält, keine Perspektive in Sicht ist und scheinbar alles vergebens war. Dann wir werden uns überlegen müssen, was uns wichtig ist als Gesellschaft und was noch länger zurückstehen muss. Kindergärten, Schulen und Unis sind sicher wichtig. Da wir besonders die jüngeren Kinder nicht unter Verschluss halten können, müssen dann alle anderen für sie einstehen und ein Gegengewicht liefern. Fast möchte ich sagen, was die Kanzlerin 2015 gesagt hat... Und ja, ich glaube, wir schaffen das tatsächlich, was bleibt uns anderes übrig.
Auf jeden Fall sollten wir Triathleten überlegen, wie wir unseren Wettkampfsport 2021 ausrichten. Konzepte gibt es bereits, und einige Veranstalter versuchen es dieses Jahr schon, wir werden sehen und lernen. Langstreckenschwimmen: mit Rolling Start, sollte kein Problem sein. Einzelzeitfahren: War schon immer mit Einzelstart. Laufen: Sollte auch machbar sein, aber vielleicht kein Berlin-Marathon mit 40.000 Läufern. Beim Triathlon werden die Wechselzonen zu klein sein. Alles wird etwas aufwändiger sein, aber der Triathlon wird zurückkommen.