von Dirk Bettge
Am schnellsten ist man immer, wenn die Reifen so hart wie möglich aufgepumpt sind – oder? Jedenfalls scheinen das sehr viele Triathleten zu denken und fahren im Training, im Zeitfahren und im Gelände immer mindestens mit dem auf dem Reifen angegebenen Maximaldruck durch die Gegend. Komisch nur, dass sich alles so bretthart anfühlt, selbst mit dem MTB ist Kopfsteinpflaster eine üble Rüttelei, und der raue Asphalt oder kleinteiliges Pflaster auf der Zeitfahrstrecke erzeugen böse Vibrationen an Sattel, Lenker und Pedalen. Das sollte einem zu denken geben! Vielleicht liegen die optimalen Werte niedriger als ihr denkt...
Schmale und breite Reifen, glatter und rauer Untergrund
Der Rollwiderstand eines Fahrrads wird hauptsächlich von zwei großen Anteilen bestimmt: 1) Walkarbeit: Der Reifen schluckt beim Rollen Energie, weil Lauffläche und Seitenwände verformt werden. Diese Verformungen sind nicht komplett elastisch, sondern es geht Energie in Form von Wärme durch Dämpfung verloren. Gegen diese Verluste hilft tatsächlich mehr Druck. 2) Verluste durch Hüpfen: Die Reifen sind die erste Stufe der Federung, die direkt am Boden angreift, ohne ungefederte Massen dazwischen. Die Reifen sollen kleine Unebenheiten wegfedern, ohne dass das Rad dabei hüpft und dadurch Vortrieb in vertikale Bewegung umwandelt. Das Rad soll über diese Unebenheiten drübergleiten, ohne die Vorwärtsbewegung zu stören. Dies geht umso besser, je niedriger der Druck ist.
Die beiden widerstreitenden Effekte addieren sich zum Gesamt-Rollwiderstand. Das alles leuchtet im Grunde ein, aber welcher Effekt ist stärker?
Deutlich unterschiedliche Fahrergewichte bei annähernd gleicher Reifenbreite
Folgende Fragen möchte ich gern beantworten:
Sehr große Systemgewichte beim Tandem auf der Straße und im Gelände
Definition: Luftdruck in barDer Luftdruck in Reifen wird hierzulande in der Einheit "bar" gemessen. Bar bedeutet immer Überdruck, d.h. die Skala für den Luftdruck im Reifen beginnt bei 0, nicht bei 1. Ein bar entspricht vom Betrag her dem Luftdruck der Erdatmoshäre auf Meershöhe (1013 hPa), d.h. bei 3 bar Druck im Reifen beträgt der Gesamtdruck 4 Atmosphären. Im englischsprachigen Raum wird statt bar gerne die Einheit "psi" verwendet (pounds per square inch). Ca. 14 psi sind ein bar, und demnach sind 100 psi ca. 7 bar. |
Zu all diesen Fragen gibt es nur wenige Aussagen, die mit konkreten Zahlen belegt sind, die auf Messungen beruhen. Daher finde ich sehr interessant, dass die Firma Silca sich nicht nur Gedanken macht, sondern ihr Erfahrungswissen öffentlich zugänglich diskutiert. Silca baut u.a. hochwertige Pumpen, darunter teure und genaue, die auch von Profiteams benutzt werden. Wozu braucht man Pumpen, die den Luftdruck auf ein Zehntel bar genau einstellen können? Jedenfalls hat Silca in 2019 eine ganze Reihe von Beiträgen veröffentlicht – zum Selbstlesen findet ihr die wichtigsten Links ganz unten auf der Seite [2,3,4], dazu noch weitere Quellen.
Unter anderem haben sie Tests auf realen Untergründen mit Leistungsmessung durchgeführt. Dabei haben sie den theoretisch berechneten Rollwiderstand mit Messwerten vom Rollenprüfstand und auf realem Untergrund verglichen. Die folgende Graphik zeigt die berechneten und gemessenen Rollwiderstandswerte (Crr, dimensionslose Größe) in Abhängigkeit vom Reifendruck (tire pressure in psi)
Vergleich Messwerte Rollenprüfstand (dunkelblaue Kurve) mit Realwerten (hellblaue Kurve) [4].
Kurz gesagt deckt sich nur die Messkurve des Rollenprüfstands (das ist die dunkelblaue Kurve) mit den berechneten Werten auf Grund von Walkverlusten (die durchgezogene Ausgleichskurve). Sobald ein echtes Fahrrad mit Fahrer auf einer realen Oberfläche rollt, steigt ab einem gewissen Druck der Rollwiderstand steiler an als er zuvor gefallen ist (hellblaue Kurve). Es gibt also nicht nur einen optimalen Reifendruck (am Minumum der hellblauen Kurve), sondern die Nachteile durch zu hohen Druck sind sogar größer als diejenigen durch zu geringen Druck! Noch stärker ist dieser Effekt bei rauen Untergründen:
Vergleich Messwerte Rollenprüfstand mit Realwerten [4].
Was bedeutet das für das Fahrtempo? Bei einem Hobby-Triathleten auf der Zeitfahrmaschine reden wir von Geschwindigkeits-Differenzen von ca. 0,5 bis 1 km/h [9]. Auf einem olympischen Triathlon wären das ganz grob 90 Sekunden auf 40 km Radstrecke – eindeutig zuviel Zeit, um sie einfach liegen zu lassen.
Die Leistungs-Messdaten hat Silca offenbar in Formeln übersetzt und in ein kleines Programm gepackt. Dieser Pressure Calculator berücksichtigt verschiedene Untergründe und empfiehlt, auf den schlechtesten vorkommenden Untergrund einer Strecke zu optimieren. Die einzugebende, reale Reifenbreite ist jeweils konkret zu messen, denn sie hängt von der Felgenbreite ab. Das einzugebende Gewicht ist das Systemgewicht, also Rad + Fahrer + Kleidung etc. Beim Herumspielen mit dem Calculator fällt schnell auf, dass die Reifenbreite einen starken Einfluss hat, der Untergrund auch, das Systemgewicht nicht ganz so stark. Um das etwas zu veranschaulichen (und euch die Tipparbeit zu ersparen), habe ich einige Werte beispielhaft eingegeben, tabelliert und graphisch dargestellt:
Tabellen und Graphiken für Systemgewichte 65 - 85 - 110 - 145 kg. Berechnet mit [1], Gewichtsverteilung vorn:hinten 50:50. Die Übersetzung der Untergründe ist nicht ganz eindeutig: Pavement ist eigentlich Pflaster, aber sie meinen offenbar Asphalt. Hiesige Straßen bewegen sich also um die blaue Kurve. Track Concrete, also eine Beton-Radrennbahn ist bereits glatter als jeder Asphalt.
Nun urteilt selbst: Überrascht euch das? Die optimalen Drücke sind vermutlich geringer als die meisten Leute glaubten. Auf rauem Untergrund und im Gelände sind die optimalen Drücke so gering, dass man sich ab einem gewissen Punkt Gedanken um Durchschläge machen muss. Deshalb fahren die Profi-Crosser immer noch ausschließlich Schlauchreifen (mit ca. 1,5 bar bei 33 mm!) und die Mountainbiker Tubeless-Reifen, je nach Disziplin mit ca. 0,8 bis 1,5 bar.
Mangelnder Federkomfort durch zu hohen Druck ist tatsächlich nicht nur lästig, sondern macht langsamer. Zu hoher Druck erzeugt sogar mehr Verluste als zu geringer Druck. Bei allen Reifen, sei es MTB oder Zeitfahrmaschine, ist es daher sinnvoll, den Druck nicht zu hoch einzustellen, sondern eher auf die gröbsten Anschnitte des jeweiligen Kurses zu optimieren. Bei breiteren Reifen ist es sinnvoll, das größere Volumen für mehr Komfort und Durchschlagfestigkeit auszunutzen – ihr seid nicht langsamer dadurch. Warum fahren wir dann nicht noch breitere Reifen an der Zeitfahrmaschine? Wegen des Luftwiderstands, aber das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt wird...
Hier nochmal die ganz kurze Version: